[Mythos Barrierefreiheit] Teil 1 – Toiletten

Dass es mit der Barrierefreiheit noch nicht allzu weit her ist, wissen vermutlich die meisten. Immer wieder sieht man in Satiremagazinen wie Extra3, wie die Bahn sich mal wieder rausredet, weil der Fahrstuhl kaputt ist und Rollstuhlfahrer, aber auch Mütter mit Kinderwagen, nicht mehr zu den Gleisen kommen. Oder wie Rathäuser und andere Ämter ausschließlich über Treppen erreichbar sind. Und auch, dass in Unis immer noch nicht alle Seminarräume für jeden zu erreichen sind, hört man oft genug – und doch tut sich nichts.

Aber Barrierefreiheit beinhaltet nicht nur das. Barrierefreiheit heißt, dass der Staat in der Pflicht ist, jedem –  unabhängig von seinen psychischen, physischen oder geistigen Einschränkungen und Besonderheiten – eine gleichberechtigte Teilhabe in allen Bereichen des Lebens zu ermöglichen. Bildung, Freizeit, Arbeit, politisches Engagement, nirgendwo DARF eine Behinderung, Krankheit oder Besonderheit einschränkend wirken oder zu Einschränkungen seitens des Systems oder der Menschen führen. Sagt zumindest die Behindertenkonvention, also geltendes Recht, seit 2008.

Dass es damit in der Praxis nicht weit her ist, kann man sich vermutlich denken. Alleine schon, wenn man auf die Straße geht, kann man das merken. Denn auch, wenn nur wenigen der 7,5 Millionen anerkannten Schwerbehinderten, beziehungsweise 10 Millionen anerkannten Behinderten ihre Behinderung offen anzusehen ist, sieht man doch deutlich weniger Menschen mit Behinderung, als prozentual da sein müssten. Und das liegt nicht nur daran, dass sie nicht aus dem Haus gehen wollen oder aus psychischen Gründen nicht können. Das liegt auch daran, dass ihnen da Steine in den Weg gelegt werden.

Heute möchte ich mich dabei dem ersten Aspekt zuwenden, habe aber vor, im Laufe der Zeit auch noch andere zu betrachten. Heute ein Grund, der es mir persönlich oft schwer macht: Die Toilette.

Gründe, warum die Toilette ein Problem wird, gibt es viele

Manche Menschen sind so wie ich, sie haben eine Reizblase. Das heißt, wenn sie nervös sind, müssen sie aufs Klo. Oder wenn sie Angst haben. Oder sie etwas erschreckt. Reizdarm hört man öfter, das sind Menschen, die bei Stress Magen-Darm-Probleme bekommen (und auch sie wünschen sich sicher eine bessere Versorgung mit Toiletten), doch von Reizblasen hört man seltener.

Dabei wird die Reizblase mit zu den Formen der Inkontinenz gezählt, geht aber nicht unbedingt mit echter Inkontinenz (also unfreiwilligem Urinieren abseits von Toiletten) einher. In meinem Fall ist das zum Glück noch nie passiert und ich hoffe auch, dass dem lange so bleibt. Gern bis ins Grab. Aber sie müssen häufiger und auch bei gering gefüllter Blase auf Toilette, spüren schnell und oft Harndrang.

Bei mir kommt noch hinzu, dass ich nicht nur eigentlich durchgängig das Gefühl habe, ich müsste aufs Klo, sondern auch, dass ich da besonders reizempfindlich bin, irgendeine psychologische Besonderheit oder ein Nervenproblem da hineinspielt, das ich bisher noch nicht zuordnen konnte.
Ich weiß, dass ich Essen auf dem Herd habe und jetzt nicht weggehen kann? -> Ich muss dringend aufs Klo.
Wir erwarten Post und keiner außer mir ist zuhause? -> Ich muss dringend aufs Klo, immer und immer wieder.
Ich bin auf Toilette und gerade fertig, will die Hose hochziehen und bleibe mit dem Knie hängen, so dass der routinierte Bewegungsablauf unterbrochen wird? -> Ich muss mich wieder setzen und noch mal pinkeln.
Ich weiß, dass ich gleich aus dem Haus muss? -> Jetzt kommen bis zu 90 Minuten von Pinkeln, Abputzen, Anziehen, Harndrang(!), Hose runter, Hinsetzen, Pinkeln, …

Hilfe gibt es schon, in Form von Wärme. Ich habe mittlerweile 3 Powerbanks mit Taschenwärmerfunktion, die je bis zu 6 Stunden wärmen können. In die Hosentasche gesteckt, wärmen sie die Blase und lindern das Ganze etwas. Aber ihr könnt euch vorstellen, dass so etwas ein Problem ist.

Und es gibt ja nicht nur Leute wie mich. Was ist mit denen mit richtiger Blasenschwäche? Mit Rollstuhlfahrern, die eh eingeschränkter sind, mit Pech viel länger brauchen, um von A nach B zu kommen, weil wieder kein Niederflurbus kommt? Oder Schwangeren, deren Kind auf die Blase drückt?

Die Erreichbarkeit ist oft miserabel

Wir alle müssen mehrmals am Tag auf Toilette, und wir alle können nicht zu 100% planen, wann das der Fall sein wird. Aber wie kommt es dann, dass es immer weniger öffentliche Toiletten gibt? Und diese komischerweise oft auch nur von 8 bis 20 Uhr geöffnet sind, also zu den Zeiten, in denen man zumindest in der Stadt auch im Kaufhaus direkt daneben gehen könnte?

Es gibt immer weniger Toiletten, die man auf dem Weg als Notfallpunkt einplanen kann, um abgesichert zu sein. Toiletten kosten immer mehr Geld (mittlerweile auf der Autobahn 70 Cent und im Bahnhof einen Euro), und dann entsprechen sie meistens nicht einmal dem, was die Menschen wirklich brauchen.

Zum Beispiel ist mir jetzt bei Vorstellungsgesprächen oft untergekommen, dass die Behindertentoiletten in Bahnhöfen, aber auch Universitäten abgeschlossen sind und nicht einmal ein Schild zu sehen ist, wie man sie öffnen kann. Und nein, ich meine nicht besetzt. Man braucht einen Schlüssel. Und viele Kaufhäuser, Restaurants und sogar Behörden haben nicht einmal eine Behindertentoilette.

Und schlimmer noch: Noch immer hat nicht jeder Bahnhof überhaupt eine Toilette. Ich saß mal drei Stunden in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen fest, weil in Bad Oeynhausen ein Mann mit Herzinfarkt aufs Gleis und direkt vor einen einfahrenden Zug gekippt war und erstmal geborgen und behandelt werden musste (und man erst feststellen musste, dass es eben ein Herzinfarkt und kein Selbstmordversuch war). Das ist kein Problem und völlig verständlich. Nur durften wir nicht wieder in den Zug, der Bahnhof hatte keine Toilette und weil Sonntag war, hatte kein Geschäft offen. Hier hört dann doch die Würde des Menschen auf und der Schmerz der sich verkrampfenden Blase fängt an.

Man schließt aber nicht nur Behinderte aus

Denn oft werden Toiletten nach dem Motto gebaut, dass sie auf keinen Fall zu viel Platz wegnehmen dürfen, den man anderweitig verwenden kann. Dabei bedenkt man nicht, dass rund 7 Prozent der Bevölkerung, und nicht nur Behinderte, Klaustrophobie haben. Angst vor engen Räumen. Auch hier bin ich leider betroffen. Und musste feststellen, dass sehr viele Toiletten im öffentlichen Raum, aber auch in Mietwohnungen, für mich nicht nutzbar sind. Nachdem meine Klaustrophobie schlimmer wurde und ich in meiner Schule auf den normalen Toiletten mehrfach deswegen zusammengebrochen bin, hab ich mich heimlich auf die (auch hier abgeschlossenen) Behindertentoiletten geschlichen. Man konnte sie zum Glück relativ gut per Hand aufschließen.

Und als ich eine eigene Wohnung suchte, und ich bei einer Besichtigung in ein Schlauchbad (eines dieser langen, schmalen, bei denen man auf dem Klo mit den Knien schon fast an die Wand stößt) nicht mal hinein gehen konnte, wurde mir von der Genossenschaftsmitarbeiterin gesagt, dann solle ich mich gleich nicht mehr bei ihrem Arbeitgeber melden, alle ihre Wohnungen (also alle insgesamt in Uni-Nähe) seien so gebaut.

Was das bedeutet

Das kann vermutlich nur jeder Betroffene für sich selbst sagen. Ich kann nur ausführen, was das für mich persönlich bedeutet: Ich kann kaum aus dem Haus. Und das nicht nur wegen dem tatsächlichen Problem, dass ich dann vor Nervosität nicht vom Klo komme. Nein, ich muss auch immer sicher sein, dass ich ausreichend Toiletten auf dem Weg kenne, die ich nutzen kann, wenn es sein muss. Und ich muss genau auf meine Ernährung achten. Am Abend bevor ich aus dem Haus gehe, darf ich nichts essen, was zu salzig ist, sonst lagert der Körper Wasser an, und muss häufiger auf Toilette. Ich darf Tage vorher keinen Orangensaft mehr trinken (den ich eigentlich für meine Medikamente dringend bräuchte, würde ich mich an die Packungsbeilage halten), weil die Säure die Blase reizt. Kaffee? Nur, wenn ich mindestens 4 Stunden nach dem Kaffee noch in der Nähe eines Klos bleibe.

Ich muss mir Sicherheitsräume schaffen. So weiß ich in meinem Dorf mittlerweile, dass ich für 30 Cent – ein Brötchen – als Kunde beim Bäcker auf Toilette gehen kann, auch sonntags. Und für einen Euro – eine Kugel Eis – darf ich das Klo der Eisdiele nutzen. Zu den Öffnungszeiten hat auch unser Rathaus eine gute Toilette.

Aber außerhalb wird es schwierig. Und wenn ich mein Leben ändere, woanders zur Schule, Uni oder Arbeit muss, braucht es Zeit. Ich muss mich lange vorbereiten, alle Toiletten entdecken, Wege planen, Zeiten messen, damit ich mir die selbe Sicherheit, die ich hier im Dorf habe, auch woanders schaffen kann.

Das führt dazu, dass ich seit Jahren nicht mit meiner alten Theater-AG auf den Weihnachtsmarkt kann. Einmal im Jahr treffen sie sich dort, gehen mit einander Glühwein trinken, und unterhalten sich über all das, was in der Zeit passiert ist. Jedes Jahr bin ich eingeladen. Jedes Jahr will ich hin. Und jedes Jahr wieder legen sie ihr Treffen auf eine Zeit nach 20 Uhr – wenn das einzige Klo in der Nähe schon geschlossen ist. Denn die Klowagen des Weihnachtsmarktes kann ich wegen Klaustrophobie nicht nutzen.

Betteln, um aufs Klo zu müssen

Und dann gibt es noch die Sonderfälle, so das Arbeitsamt, zu dem ich gehen muss. Hier muss man erst vor allen Augen den Wachdienst darum bitten, dass man einen Chip fürs Klo bekommt. Wieder kein behindertengerechtes, muss ich dazu sagen.

Es gibt hier für Besucher insgesamt einen Kloraum mit zwei Toiletten, für drei oder vier Etagen. Im Eingangsbereich. Und die Abteilung für Behinderte, in die ich muss, ist im zweiten Stock. Auf dem Weg zu meiner Sachbearbeiterin komme ich an drei verschlossenen Mitarbeitertoiletten vorbei, aber ich muss nach teils über einer Stunde Unterhaltung mit ihr immer die Zähne zusammenbeißen, durchhalten, den Weg durch das Labyrinth nach unten finden, den Wachmann anflehen, je nachdem, wer Dienst hat, die Einladung zum Termin raussuchen und vorlegen, um zu beweisen, dass ich tatsächlich ‚Kunde‘ des Amtes und heute berechtigt vor Ort bin und erst dann darf ich auf Toilette. Als Schwerbehinderte mit Reizblase. Vielen Dank auch. So sieht Barrierefreiheit in Behörden 2018 aus. Selbst meine Mutter, die mich fährt, weil meine Blase bisher Busfahrten nicht gern mag und dann nur noch nervöser ist, findet das Vorgehen so beleidigend und erniedrigend, dass sie als meine Begleitperson lieber im dreckigen Parkhaus auf Toilette geht, oder bis zum nächsten Einkaufszentrum läuft. Obwohl die Amtsklos – und das muss man ihnen zu Gute halten, wirklich sauber und für Nicht-Behindertentoiletten halbwegs geräumig sind.

Was ist jetzt mein Fazit?

Dass Toiletten, obwohl wir alle sie immer wieder nutzen dürfen, nicht nur generell zu selten vorhanden sind, sondern sie oft auch nicht auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen, die vielleicht nicht ganz normal sind. Dass dadurch Menschen das Leben unnötig schwerer gemacht wird, und das einer der Gründe ist, warum Behinderte in der Gesellschaft nicht ganz so sehr teilhaben können, wie sie es vielleicht gerne wollten und wie es für gesunde Menschen völlig normal ist.

Und, dass vielleicht zumindest bei Neubauten endlich dran gedacht wird, dass nicht jeder Mensch ein völlig gesunder Mann ist, der sich nur vors Klo stellen muss. Ja, liebe Herren Architekten, das geht an euch. Für Frauen wäre es schon schön, sich nicht den Ellbogen blau zu stoßen, wenn man nach dem Klopapier greift – das passiert mir jedes Mal, wenn ich für ein neues Glasauge zum Augenmacher muss. Und, dass es dann noch Menschen wie mich gibt. Und Klaustrophobiker. Und Rollstuhlfahrer. Und viele andere Krankheiten, die ich gerade nicht auf dem Plan habe, die hier auch eine Rolle spielen. Tut doch bitte der Welt, dem Gesetzgeber und uns Betroffenen den Gefallen und gebt uns die Möglichkeit, wenigstens ganz normal aufs Klo zu gehen.

 

Bilder: Kostenlose Bilder von Pexels, danke an Hermaion

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